Zusammenfassung der gemeinsamen Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht

Die Gestaltung geeigneter Lernangebote für den inklusiven Mathematikunterricht stellt eine große Herausforderung dar. So müssen die hierarchisch strukturierten Inhalte verschiedener Jahrgangsstufen derart mit den individuellen Kompetenzen, Entwicklungspotentialen und Lernständen abgestimmt werden, dass das mathematische Verständnis aller Schülerinnen und Schüler in kommunikativen Lernprozessen gefördert wird. Dabei gilt es zudem sowohl die individuellen Lernziele als auch die Entwicklungsziele zu berücksichtigen (s. Lern-/Entwicklungsziel).

Ziel dieser Lernangebote ist die Ermöglichung vielfältiger Freiräume, in denen sich alle Lernenden auf individuell bedeutsamen Lernwegen bewegen sowie durch gemeinsame Tätigkeiten entwickeln können. Dazu sollten vielfältige gemeinsame Lernsituationen stattfinden, mit unterschiedlichen Akzentuierungen von gemeinsamkeitsstiftenden und individuellen Situationen. Durch flexible Unterrichtsangebote können alle Schülerinnen und Schüler teilweise gemeinsam (zieldifferent oder zielgleich) an einem gemeinsamen Gegenstand arbeiten, teilweise arbeiten sie auch gemeinsam auf unterschiedlichen Niveaus entlang einer gemeinsamen Idee. Daneben gibt es auch Phasen, in denen die Lernenden (zieldifferent oder zielgleich) an verschiedenen Gegenständen und somit an Aufgaben arbeiten, die keinen direkten thematischen Bezug zueinander aufweisen. In einem Teil der Unterrichtszeit arbeiten einzelne Schülerinnen und Schüler, und nicht nur Lernende mit sonderpädagogischem Förderbedarf, getrennt an für sie bedeutenden, individuellen Inhalten und Zielen. Eine Mischung und Variation der unterschiedlichen Lernsituationen kann zu individuellem Lernen, gemeinsamem Lernen in kleinen Lerngruppen sowie gemeinsamem Lernen aller Schülerinnen und Schüler führen. Dabei hat jede Lernsituation im Verlaufe mehrerer Mathematikstunden ihre Bedeutung und ihren Wert.

Zentraler Kern der Lernsituationen sind die Gegenstände, an denen die Schülerinnen und Schüler arbeiten. Zur Auswahl geeigneter Gegenstände bietet sich eine Orientierung an den fundamentalen Ideen der Mathematik an. In dem Zusammenhang umfasst der Begriff „Gegenstand“ die Erkenntnisse und Zusammenhänge der fundamentalen Idee, die die Schülerinnen und Schüler entdecken sollen. Durch eine Ausdifferenzierung der fundamentalen Idee gemäß des Spiralprinzips wird der Gegenstand für die Schülerinnen und Schüler auf unterschiedlichen Niveaus bearbeitbar.

Das dargestellte Modell der gemeinsamen Lernsituationen im inklusiven Mathematikunterricht zeigt unterschiedliche Möglichkeiten, mit der Gemeinsamkeit in der Vielfalt umzugehen. Mit dessen Hilfe kann bei der Planung und Reflexion von Unterricht analysiert werden, welchen Anteil die einzelnen Lernsituationen bei der unterrichtlichen Umsetzung im inklusiven Mathematikunterricht einnehmen. Allerdings kann nicht erwartet werden, dass alle Schülerinnen und Schüler zur gleichen Zeit gleichermaßen von den Lernangeboten profitieren. Für einen gelingenden und lernförderlichen Mathematikunterricht ist das Verhältnis zwischen den Lernsituationen entscheidend. „Die Lehrerinnen und Lehrer sind nach diesem Ansatz gehalten, die konkreten Möglichkeiten und das richtige Ausmaß von integrierenden und differenzierenden Maßnahmen in jedem einzelnen Unterrichtsvorhaben neu auszumitteln“ (Ramseger 1992, S. 60). Erst eine sinnvolle, ausgewogene und angemessene Balance der verschiedenen Lernsituationen in den beiden dialektischen Spannungsfeldern zwischen (1) Individualisierung und Gemeinsamkeit sowie zwischen (2) Offenheit hinsichtlich vielfältiger mathematischer Themen und Inhalte und einer Fokussierung auf eine Idee zur Kooperation, jeweils auf verschiedenen Stufen des Verständnisses, kann einen produktiven inklusiven Mathematikunterricht unterstützen. Im Unterricht sollten didaktisch so viele gemeinsame, kooperative Tätigkeiten wie möglich kreiert sowie so viel individuelles Lernen an verschiedenen Inhalten wie nötig gewährt werden. Dadurch soll das gemeinschaftliche, soziale Lernen sowie die Eigenverantwortlichkeit gefördert, aber auch je nach Bedürfnissen eine individuelle Lerngestaltung (vgl. z.B. verschiedene Entwicklungsziele) sowie das Verfolgen unterschiedlicher individueller Lernziele ermöglicht werden, um das Recht auf Gleichheit und Differenz zu verwirklichen.

Literatur

Häsel-Weide, U. (2017). Inklusiven Mathematikunterricht gestalten. Anforderungen an die Lehrerausbildung. In J. Leuders, T. Leuders, S. Ruwisch, & S. Prediger (Eds.), Mit Heterogenität im Mathematikunterricht umgehen lernen – Konzepte und Perspektiven für eine zentrale Anforderung an die Lehrerbildung (pp. 17-28). Wiesbaden: Springer Spektrum.

Häsel-Weide, U., & Nührenbörger, M. (2013). Kritische Stellen in der mathematische Lernentwicklung. Grundschule aktuell, 122, 8-11.

Häsel-Weide, U., Nührenbörger, M., Moser Opitz, E., & Wittich, C. (2019). Ablösung vom zählenden Rechnen. Fördereinheiten für heterogene Lerngruppen. Seelze: Kallmeyer Klett.

Ramseger, J. (1992). Was heißt ‘gemeinsame Schule für alle’? – oder: Die Grenzen der Integration. In R. Lersch & M. Vernooij (Eds.), Behinderte Kinder und Jugendliche in der Schule. Herausforderung an Schul- und Sonderpädagogik (pp. 53-65). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Schöttler, C. (2019). Deutung dezimaler Beziehungen – Epistemologische und partizipatorische Analysen von dyadischen Interaktionen im inklusiven Mathematikunterricht. Wiesbaden: Springer Spektrum.